Predigt Joh. 6, 3-15

Einleitung und Predigttext

Der in der Perikope vorgesehene Predigttext für den heutigen Sonntag ist eine sehr bekannte Geschichte, allerdings in einer Fassung, die vielleicht nicht ganz so oft als Grundlage genommen wird. Der Text steht im Evangelium des Johannes, Kapitel 6, die Verse 3-15

Jesus stieg auf den Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern nieder. Das Pascha, das Fest der Juden, war nahe. Als Jesus aufblickte und sah, dass so viele Menschen zu ihm kamen, fragte er Phillipus: Wo sollen wir Brot kaufen, damit diese Leute zu essen haben? Das sagte er aber nur, um ihn auf die Probe zu stellen, denn er selber wusste, was er tun wollte. Phillipus aber sagte zu ihm: Brot für zweihundert Denare reichen nicht aus, wenn jeder von ihnen auch nur ein kleines Stück bekommen soll. Einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus, sagte zu ihm: Hier ist ein kleiner Junge, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische, doch was ist das für so viele? Jesus sagte: Lasst die Leute sich setzen, es gab dort nämlich viel Gras. Da setzten sie sich, es waren etwa fünftausend Männer. Da nahm Jesus die Brote, sprach das Dankgebet, und teilte an die Leute aus, so viel sie wollten, ebenso machte er es mit den Fischen. Als die Menge satt war, sagte er zu seinen Jüngern: Sammelt die übriggebliebenen Brotstücke, damit nichts verdirbt. Sie sammelten und füllten zwölf Körbe mit den Stücken, die von den fünf Gerstenbrote nach dem Essen übrig waren. Als die Menschen das Zeichen sahen, das er getan hatte, sagten sie: das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll. Da erkannte Jesus, dass sie kommen würden, um ihn in ihre Gewalt zu bringen und zum König zu machen. Daher zog er sich wieder auf den Berg zurück, er allein.

Der Text und seine Bedeutung

Die Speisung der fünftausend zählt zu den am meisten erzählten und gepredigten Texten des neuen Testamentes. Kaum eine Sonntagsschule, wo dieser Text nicht Teil der Reihe ist, kaum ein Jahr, wo dieser Text nicht gepredigt und den Menschen nahe gebracht wird. Das ist auch gut verständlich, denn die erste Aussage dieser Geschichte ist für uns ungemein tröstlich. Jesus kümmert sich um uns und nimmt unsere Grundbedürfnisse ernst. Und er ist fähig, uns auch in Zeiten des Mangels satt zu machen und da, wo menschlich kein Weg mehr vorhanden ist, neue und wundersame Wege zu eröffnen.

Manchmal wird dieser Text auch im übertragenen Sinn verwendet. Von dem konkreten Mangel an Essen in einer unwirtlichen Gegend wird eine Situation der gefühlsmäßigen und inneren Leere abgeleitet, in der uns Jesus mit seinem Wort, seiner Nähe und seinem Verständnis zum Leben erwecken kann. Auch der Hunger der Seele kann durch Jesus gestillt werden.

Aber diesen ausgetretenen Pfaden zu Predigten über diesen Text wollte ich nicht folgen. Ich habe mich gefragt, ob er nicht auch andere Aussagen enthält, über die es sich lohnt nachzudenken. Fündig bin ich dadurch geworden, dass diese Geschichte von allen vier Evangelisten erzählt wird. Nun ist es allgemein bekannt, dass das Johannes Evangelium in vielerlei Hinsicht etwas Besonderes ist und das macht sich auch bei unserem Text bemerkbar. Ich lese daher im Vergleich einmal die Fassung der Geschichte nach Markus, von dem man nachsagt, dass er das älteste Evangelium geschrieben hat

Der Vergleichstext

Markus 6, 34-44

Als er ausstieg und die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben und er lehrte sie lange. Gegen Abend kamen seine Jünger zu ihm und sagten: Der Ort ist abgelegten und es ist schon spät. Schick sie weg, damit sie in die umliegenden Dörfer und Gehöfte gehen und sich etwas zu essen kaufen können. Er erwiderte ihnen: Gebt Ihr ihnen zu essen. Sie sagten zu ihm: Sollen wir weggehen und für zweihundert Denare Brot kaufen und es ihnen geben, damit sie zu essen haben? Er sagte zu ihnen: Wie viele Brote habt ihr? Geht und seht nach. Sie sahen nach und berichteten, Fünf Brote und außerdem zwei Fische. Da befahl er ihnen, den Leuten zu sagen, sie sollten sich in Gruppen ins grüne Gras setzen. Und sie setzen sich in Gruppen zu hundert und zu fünfzig. Daraufhin nahm er die fünf Brote und die zwei Fische, blickte zum Himmel auf, sprach den Lobpreis, brach die Brote und gab sie den Jüngern, damit sie sie an die Leute austeilten. Auch die zwei Fische ließ er unter allen verteilen. Und alle aßen und wurden satt. Als die Jünger die Reste der Brote und auch der Fische einsammelten, wurden zwölf Körbe voll. Es waren fünftausend Männer, die von den Broten gegssen hatten.

Die Unterschiede der Texte

Wer den Johannes Text noch im Hinterkopf hat, wird gemerkt haben, dass es einige Unterschiede zwischen Johannes und Markus gibt und ich will die heutige Predigt dazu nutzen, einmal über diese Unterschiede und ihre Hintergründe nachzudenken. Die folgenden Punkte sind die wesentlichen inhaltlichen Unterschiede zwischen diesen beiden Erzählungen

Die Bedeutung der Unterschiede

Wenn es solche Unterschiede in den Evangelien gibt, so sind sie in der Regel dadurch verständlich zu machen, dass man die unterschiedlichen Absichten der Evangelisten betrachtet. Damals war es keineswegs so, dass eine historische Geschichte aus einem neutralen Standpunkt heraus erzählt werden muss, so wie es heute eigentlich üblich ist. Der Historiker war damals in keiner neutralen Erzählposition, sondern die Erzählung hatte einen Zweck, ein Ziel, der Erzähler verfolgte eine Absicht. Und daraus ergab sich fast automatisch, dass verschiedene Erzähler unterschiedliche Schwerpunkte setzten, unterschiedliche Details hervorhoben und die Erzählung unterschiedlich aufbauten.

So ist es dem Matthäusevangelium klar anzumerken, dass es für Matthäus sehr wichtig war zu begründen, dass Jesus tatsächlich der vorhergesagte Messias ist, dass Jesus die Zeichen auf sich vereinigt, die auf den Messias hinweisen und dass mit Jesus das in Erfüllung geht, was vorhergesagt war.

Ähnlich ist es beim Johannesevangelium klar zu merken, dass es Johannes sehr darauf ankommt, die Göttlichkeit Jesu hervorzuheben. Jesus ist nicht nur als Menschensohn, sondern als Gottes Sohn, ja als Gott selbst zu sehen. Die Botschaft von Johannes ist, dass Jesus eben nicht nur ein guter Mensch war, der sich dadurch auszeichnete, dass er eine besondere Beziehung zum Glauben seiner Zeit hatte, nein, das war Johannes nicht genug. Ihm ging es darum zu zeigen, dass in Jesus nicht nur Gott am Werk war, sondern, dass uns in Jesus Gott selbst begegenet

Mit dieser Beobachtung greifen wir nicht nur ein Thema auf, das uns bei Johannes eben begegnet, sondern mit dieser Beobachtung greifen wir eine ganze religionshistorische Epoche auf. Die Frage "war Jesus Mensch oder ist Jesus Gott" hat die frühe Christenheit nicht nur aufs Äußerste bewegt, sie war eines der wichtigsten theologischen Streitfragen, die geradezu zu einer Zerrissenheit geführt hat und die die Vorgabe der gegenseitigen Liebe stark auf die Probe gestellt hat.

Die Begründung der Unterschiede

Aber bevor ich allgemeiner auf diese Streitfrage eingehe, will ich zunächst begründen, warum ich die Unterschiede in den Evangelien darauf zurückführe. Markus, Lukas und Matthäus berichten über die Speisung der fünftausend so, wie es vermutlich ein neutraler Beobachter von außen gesehen hätte. Jesus zieht sich in die Wildnis zurück, wird aber von einer großen Menschenmenge verfolgt. Jesus stellt sich daraufhin hin und lehrt diese Menschen und sie hängen an seinen Lippen, so dass die Mehrheit bleibt und über lange Stunden hinweg ausharrt. Gegen Abend versammeln sich die zwölf Jünger um Jesus, um ein Problem zu besprechen, wie bekommt man diese Menschenmenge satt. Bei Markus, Matthäus und Lukas reagieren die Jünger wie dies damals in den Meister-Schüler Beziehungen der Rabbuni wohl üblich war. Der Meister kümmert sich ums Lehren, um die geistige Nahrung, die Jünger organisieren den praktischen Teil. Und daraus entspinnt sich die Diskussion darum, wie man mit fünf Broten und zwei Fischen eine ganze Menschenmenge bewirten kann.

Doch Johannes ist dies nicht genug. Wenn Jesus nicht nur ein Rabbuni war, sondern Gott selbst, dann müsste er die Eigenschaften Gottes widerspiegeln. Er würde nicht auf Ereignisse reagieren, sondern er würde die Ereignisse aktiv in der Hand halten. Und so kommt Johannes – erfüllt vom heiligen Geist – zu seiner Aussage "Das sagte er aber nur, um ihn auf die Probe zu stellen, denn er selber wusste, was er tun wollte" Eine solche Aussage kann Johannes nicht vom Beobachten, vom reinen Hinsehen haben, eine solche Aussage stellt eine Aussage über das innere Denken Jesu dar, es ist bereits eine klare theologische Interpretation des Geschehens. Genauso ist es zu verstehen, dass Johannes Wert darauf legt, dass die Initiative von Jesus ausgeht und nicht wie bei den anderen Evangelisten von den Jüngern. Jesus ist der, der dieses Speisungswunder nicht nur durchführt, sondern es auch einleitet und gezielt mit Fragen in Gang setzt.

Auch der Johannes eigene Hinweis auf das nahe Paschafest hat einen theologischen Hintergrund. Im Paschafest feiern die Juden den Auszug aus Ägypten und die Bewahrung des Volkes Israel in der Wildnis, der Wüste. Und zu dieser Bewahrung hat es gehört, dass Gott den Israeliten zu essen gegeben hat durch die Gabe des Mana. Mit dem Hinweis auf das nahe Paschafest stellt Johannes damit dieses Speisungswunder Jesu in den direkten Zusammenhang mit dem Speisungswunder Gottes, der Hinweis soll also ebenfalls ausdrücken, dass Jesus nicht nur ein Wundertäter ist, sondern direkt aus Gott kommt, ja Gott ist.

Der dritte grössere Unterschied in den Evangelien ist der Hinweis bei Johannes auf den Versuch der Menge, Jesus gewaltsam zum König zu machen, ein Ansinnen vor dem Jesus flieht. Die anderen Evangelisten berichten nicht von diesem Vorgang, er ist tatsächlich ebenfalls eine theologische Interpretation des rein sachlichen Geschehens. Rein sachlich gesehen zieht sich Jesus nach diesem Wunder in die Einsamkeit zurück, er lässt sich nicht feiern, er nutzt diesen Sieg über den Hunger nicht aus, um seine Popularität zu steigern oder seinen Einfluß geltend zu machen.

Johannes interpretiert dieses Verhalten Jesu korrekterweise dahin, dass Jesus eben kein Mensch ist wie jeder andere, der allein auf irdische Wirkung Wert legt. Jesu Reich ist eben nicht von dieser Welt und Jesus wehrt sich auch dagegen zu einem König gemacht zu werden, der auf die Erfüllung irdischer Wünsche reduziert wird. Es ist wieder die Göttlichkeit Jesu, die als Konsequenz dazu führt, dass Jesus eben nicht so ist wie andere Propheten, wie andere Könige oder wie andere Heilige.

Ganz Mensch oder ganz Gott?

So denke ich, dass das Besondere eigentlich im ganzen Johannes Evangelium darin liegt, dass Johannes eine bestimmte Botschaft rüber bringen will: Jesus ist nicht ein besonders frommer Mensch gewesen, sondern er ist Gott, er ist identisch mit Gott, er ist der Mensch gewordene Gott.

Und gerade über diese Frage ist in der frühen Christenheit ein intensiver Streit entbrannt. War Jesus ganz Mensch oder war er ganz Gott. Der Streit hat die Christenheit beinahe zerrissen und keine der beiden Seiten konnte einen Sieg erringen. Wie die meisten wissen, ging der Streit schließlich in einer Kompromissformel zu Ende, die theologische Formel lautet "ganz Mensch und ganz Gott". Jesus vereint in sich die Merkmale beider Charakterisierungen.

Doch was steckt hinter diesen Formeln? Welche Konsequenzen haben die verschiedenen theologischen Ausrichtungen und welche Relevanz hat die Frage auch heute noch?

Jesus als Gott

Stellen wir uns also einmal auf den Standpunkt, den Johannes vermitteln möchte. Jesus ist Gott, er ist nicht verbunden mit Gott, er ist kein besonderer Mensch, sondern er ist Gott mit allen seinem Wissen und allen seinen Möglichkeiten. Als Gott hat Jesus immer alle Fäden in der Hand, nichts ist Zufall, nichts ist unbekannt. Das fängt bei der Speisung der fünftausend an, wo Jesus schon vorher genau weiss, was er tun möchte und findet seinen Höhepunkt bei der Kreuzigung, wo er noch am Kreuz hängend die Dinge so ordnet, wie er es für richtig befindet.

Wer erleben möchte, wie es ist, wenn Jesus als Gott wirklich ernst genommen wird, der sollte mal die Frömmigkeit der katholischen Kirche nachspüren. Mein Empfinden war dort immer, dass Jesus fern ist, unangreifbar, unnahbar. Das Problem mit Gott ist eben, dass er so hoch über uns steht, dass seine Heiligkeit uns so sehr blendet, dass wir Schwierigkeiten haben, eine innere Beziehung zu ihm herzustellen. Gott kann man anbeten, man kann sich Gott unterwerfen, aber zu nahe kommen darf man Gott nicht, denn als Mensch würde man vergehen wie eine Motte im Feuer.

Diese Eigenschaft Gottes ist auch ein wesentlicher Punkt im alten Testament, wo es wiederholt heisst, dass kein Mensch Gott je gesehen hat und auch kein Mensch je Gott sehen kann. Selbst Mose, eine der Menschen, die am dichtesten bei Gott waren und mit Gott umgegangen sind, konnte nur einen Abglanz Gottes wahrnehmen und das hob ihn schon unter den Menschen hervor.

Wenn man Jesus vollständig als Gott sieht, so hat das eben zur Folge, dass er diese Erhabenheit, diese Heiligkeit erbt. Das Geschen bei den Menschen ist wie ein riesiges Schachspiel und auch die Kreuzigung ist – und so empfinde ich das bei Johannes auch – für Jesus kein echtes Leiden, sondern ein Vorgang, bei dem es nur auf die Erfüllung von Prophezeiungen ankommt.

Die Folge einer solchen Sicht ist, dass wir Menschen jemand anderes brauchen, der als Mittler zu Gott und damit auch zu Jesus fungiert. Das Problem war schon im alten Testament klar, als Menschen wie Moses zu Mittlern wurde und wo die Priesterschaft eingerichtet wurde, um den direkten Kontakt der Menschen zu Gott zu reglementieren und zu puffern, nicht weil Gott das bräuchte, sondern um die Menschen zu schützen.

Dasselbe Phänomen kann man im katholischen Glauben beobachten. Die Stellung der Priester ist dort herausgehoben, am Besten erkennbar im Abendmahl und im Verlauf der Zeit haben sich andere Mittler zwischen Gott und den Menschen ergeben, wie Maria oder die Heiligen. Meines Erachtens ist das die Konsequenz eines Jesus, den man in seiner Göttlichkeit zu weit weg von dem Menschen gesehen hat.

Jesus als Mensch

Doch wie ist es mit der umgekehrten Sicht, Jesus ein normaler, wenn auch von Gott besonders auserwählter, ein guter Mensch. Jesus als zweiter Moses, der gekommen ist, seinem Volk die Gesetze Gottes wieder nahe zu bringen und dessen Vorstellung eines friedlichen Miteinanders in einer grausamen und egoistischen Gesellschaft, die Herzen der Menschen in Brand gesetzt hat.

Eine solche Sicht von Jesus ist heutzutage durchaus weit verbreitet. Aber es sind in der Regl nicht die Christen, die diese Sicht vertreten. Jesus als Mensch, als Prophet als Religionsstifter, das kann man akzeptieren, aber Jesus als der Sohn Gottes ist eben schon etwas anderes.

Für Christen ist hier die entscheidende Frage, wie Menschen denn erlöst sein können durch den Tod von Jesus, wenn Jesus wahrhaft ein Mensch war. Menschen, die für ihre Freunde gestorben sind, auch Menschen, die den Tod am Kreuz erleiden mussten, gab es in der Geschichte der Menschheit viele. Aber kein Mensch war je sündlos und wenn Jesus ein Mensch war, dann war auch seine Beziehung zu Gott gestört, war auch er nicht besser als andere. Sein Tod kann dann nicht den Opfercharakter gehabt haben, wie er für die christliche Botschaft von der Erlösung notwendig ist.

Welche Folgen das hat, kann man an Religionsgemeinschaften wie den Zeugen Jehovas sehen. Die Theologie der Zeugen Jehovas stellt Jesus als Mensch in den Vordergrund und sie sehen sich ja auch als Verkündiger Gottes – eben Jahwes – und nicht als Verkündiger Christi. Für die Rechtfertigung ist dann wieder die Erfüllung des Gesetzes notwendig und dieses steht bei den Zeugen Jehovas auch im Vordergrund.

Jesus ganz Mensch und ganz Gott

Die Konstantinische Kompromissformel, die den urchristlichen Streit um die Frage, wer Jesus denn tatsächlich war, entschärft hat, ist, das Undekbare zusammen zu denken. Jesus ganz Mensch und ganz Gott ist die Vereinigung eines logischen Widerspruchs in der Person Christi. Wir können eben durch den Tod Jesu nicht erlöst sein, wenn Jesus nicht eins ist mit Gott und wir können Jesus nicht als Mittler zu Gott ansehen, wenn er nicht unsere ganze Menschlichkeit vertreten würde.

Die Bibelstellen, die man zu der Person Jesu finden kann, bezeugen auch beide Ansichten. Es gibt viele Stellen, die die Göttlichkeit Jesu herausheben und viele Stellen, die die Menschlichkeit Jesu zum Vorschein bringen lässt.

Ich persönlich bin belustigt über diesen Knoten im Gehirn, den man bekommt, wenn man darüber nachdenkt. Das theologische Konzept, das im Laufe der Jahrhunderte entwickelt worden ist, ist sperrig, unverständlich, erscheint einem nur zu oft widersinnig. Und es gibt Menschen, denen das ein Hindernis im Glauben ist. Wenn sie es nicht verstehen – und das Ganze ist ja ziemlich schwer zu verstehen – dann können sie die Vorstellung Gottes nicht annehmen. Ich persönlich reagiere da eher entgegengesetzt. Meine Meinung ist, wenn etwas eingänglich und leicht zu verstehen ist, dann ist es wohl von Menschen erfunden. Einen Gott, der himmelweit über mir steht, zu verstehen, das kann ich nicht erwarten, auch wenn ich mit all meiner Kraft genau das versuche.

Konsequenzen für den Glauben

Doch nach einem solchen Ausflug in die Gefilde der höheren Theologie bleibt ein schaler Geschmack. Was habe ich als Normalbürger, was habe ich in meinem ganz normalen Glauben davon?

Nun zunächst einmal als wesentlichen Punkt, die Freiheit meines Glaubensgefühls. Das, was mir an Jesus wichtig ist, das darf mir auch wichtig sein. Wenn Jesus ganz Gott und ganz Mensch ist, dann darf ich seine Göttlichkeit oder seine Menschlichkeit hervorheben, wie ich es gerade brauche.

Dabei fällt mir ein evangelischer Pfarrer ein, der die Gebete in seinem Gottesdienst immer abschloß mit den Worten "im Namen Jesu Christi, unseres Bruders". Mit diesem Ausdruck wollte er die Nähe Jesu vermitteln, wollte klarmachen, dass Jesus nicht nur Sohn Gottes war, sondern der erste Sohn Gottes und dass wir als seine Nachfolger ihm gleichgestellt sind. Wir dürfen Gott Vater nennen, so wie Jesus dies getan hat und damit ist Jesus unser Bruder, an den wir uns mit allem wenden können, was wir dem Vater nicht zu sagen wagen.

Das Bedürfnis, dies zu tun, entspricht einem bestimmten Glaubensgefühl, das dieser Pfarrer hatte und das er damit auch leben darf. Denn es stimmt ja, Jesus ist unser Bruder, wir sind nicht mehr Knechte, wir sind Kinder Gottes.

Aber es gibt genug Chrsiten, die bei einem solchen Gedanken ein komisches Gefühl haben. Für sie ist Jesus nicht der Bruder, sondern der Herr. Für sie ist Jesus wichtig als der, der alle Fäden in den Händen hält und zu dem sie sich im Gebet wenden können. Sie wollen Jesus anbeten, und sich seiner Göttlichkeit unterwerfen. Und auch das ist möglich, denn Jesus stammt aus Gott und ist Gott. Er wurde von den Jüngern mit Herr angeredet und auch wir können dies tun. Wir können Jesus unsere Sorgen, unsere Hoffnungen und unsere Gebete geben und wissen sie damit in besten Händen.

Durch diese doppelte Eigenschaft Jesu ist auch kein weiterer Mittler zwischen Gott und Menschen mehr nötig. Jesus ist der Mensch gewordene Gott, ein Gott, den man anfassen und ansehen kann. Er ist Mensch gewesen und kann das, was uns bewegt zum Vater bringen. So kommt es, dass dem evangelischen und dem freikirchlichen Glauben das Bedürfnis der katholischen Geschwister, andere Mittler zu Gott in Anspruch zu nehmen, fremd ist.

Doch wichtig ist bei alledem, dass dies alles Ausdrücke der Freiheit sind. Ich darf Jesus als Bruder sehen, ich darf Jesus als Gott anbeten, ich darf Jesus als Mittler in Anspruch nehmen. Ob ich das tue oder nicht folgt aus meiner persönlichen Vorstellung von Jesus, wie er zu mir steht, wie er für mich ist. Was aber nicht folgt, ist der Zwang, Jesus zu sehen, wie ich es tue. In jeder Freiheit steckt auch die Freiheit des anderen. Wenn ich Jesus als meinen Gott empfinde, so darf ich doch nicht auf meinen Glaubensbruder herabsehen, der Jesus als Bruder empfindet. Wenn ich Jesus als Mittler zu Gott in Anspruch nehme, so darf ich doch nicht verächtlich auf die Katholiken blicken, die andere Mittler in Anspruch nehmen wollen.

Denn bei aller Theologie, bei aller Philosophie steht immer eines absolut im Vordergrund: Denn wenn ich prophetisch reden könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.

Amen

Segen:

HERR,

erfülle uns mit deiner Kraft, auf dass wir das mit Gelassenheit ertrage, was du uns zumutest und auferlegst;

erfülle uns mit deiner Liebe, auf dass wir sie an die weitergebe, die sich danach sehnen;

erfülle uns mit deiner Güte, auf dass wir denen Hilfe bringe, die Not leiden;

erfülle uns mit deiner Barmherzigkeit, auf dass wir sie an denen üben, die verfolgt und rechtlos sind;

erfülle uns mit deinem Segen, auf dass wir selbst zum Segen werden.

So umgebe uns mit deiner Gnade, auf dass wir mit deiner Hilfe dir und den Menschen dienen und letztlich den Weg zu dir finden.