Predigt über Römer 1, 16 + 17

Einleitung

Es war im Sommer 1983. Ich studierte noch an der Universität Bonn und ich war noch finsterer Heide. Dieser Sommer vor etwas mehr als 20 Jahren war etwas Besonderes, denn das erste Mal hatte sich bei mir der Wunsch entwickelt, einmal richtig in den Urlaub zu fahren. Die Jahre davor waren von dem Bemühen geprägt gewesen, Ferienjobs zu bekommen, aber dieses Jahr hatte ich während der Semesters Geld verdienen können und hatte daher Geld und Zeit um Uraub zu machen. Aber ich hatte niemanden, mit dem ich in den Urlaub fahren konnte und so ganz alleine, dazu hatte ich keine Lust.

Ich wälzte also noch unschlüssig Pläne hin und her, da fiel mir in der Mensa beim Mittagessen ein Flugblatt in die Hand. Zwei Wochen Norwegen mit einer Gruppe von Studenten, in eine schöne Gegend zu einem guten Preis, das weckte mein Interesse. Ich entschloss mich, die angegebene Kontaktadresse aufzusuchen und stellte erfreut fest, dass ich den Organisator kannte, ein Physikstudent wenige Semester unter mir. Die Reise wurde von einer christlichen Studentengruppe veranstaltet, der SMD – Studentenmission in Deutschland, und nachdem man mir versichert hatte, dass ich nicht gezwungen war, das ganze christliche Brimborium mitzumachen und dass genügend Zeit für andere Aktivitäten vorhanden sein würde, sagte ich meine Mitreise zu.

Es wurde ein Urlaub, der mein Leben veränderte, doch das wusste ich zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht. Aber ich kann mich noch erinnern, dass ich, nachdem ich die Reise festgemacht hatte, ein unglaubliches Gefühl der Freude hatte. Fast schien es so, als hätte mich eine unsichtbare Kraft zu dieser Reise gedrängt, und diese Kraft schien sich jetzt über den Erfolg riesig zu freuen. Heute weiss ich, dass ich schon damals ganz fest in Gottes Händen war, lange bevor ich Gott überhaupt kennen gelernt hatte. Er war die Kraft, die mein Leben lenkte, ohne dass ich davon ahnte.

Von der Kraft, die zum Leben führt, davon handelt auch der heutige Predigttext. Er steht im Brief an die Römer in Kapitel 1, die Verse 16 und 17.

Lese Röm 1, 16-17

Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; es ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt, zuerst den Juden, aber ebenso den Griechen. Denn im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart aus Glauben zum Glauben, wie es in der Schrift heisst: „der aus Glauben Gerechte wird leben“.

Gedanken zum Römerbrief

Der Römerbrief ist eines der wertvollsten und kraftvollsten Briefe des Paulus. Er schreibt hier an eine Gemeinde, die in Rom, die er nicht selber kennt, die er aber schon seit längerem besuchen wollte. Der Brief ist vermutlich etwa 55 oder 56 n Chr. entstanden, wähend Paulus in Korinth darauf wartete, dass eine Sammlung zusammengetragen wurde, die Paulus dann nach Jerusalem gebracht hat. Paulus hatte weitfliegende Pläne, er wollte nach Rom, um in der dortigen Gemeinde zu wirken, Kraft zu tanken und diese Gemeinde dann als Basis für eine Reise nach Spanien verwenden.

Gerüchte über Paulus

Vermutlich waren zu dieser Zeit bereits viele Geschichten und Gerüchte über diesen Paulus im Umlauf und auch die römische Gemeinde hatte sicherlich viel von ihm gehört. Daher war es Paulus wichtig, dass die Gemeinde ihn und seine Glaubensgrundlage kennenlernt und so thematisiert er die Grundlagen seines Glaubens in diesem Brief.

Unser Text ist der Abschluss der Einleitung des Briefes, in der Paulus für die Gemeinde in Rom dankt und versichert, dass er unablässig an sie denkt und dass er schon lange den dringenden Wunsch hatte, sie einmal besuchen zu können. Und dies beschliesst er mit dem Thema des gesamten Briefes: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“ und „Das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt“

Warum sollte Paulus sich schämen?

Als erstes betont Paulus, dass er als Apostel sich des Evangeliums nicht schämt. Dabei ist der Zusammenhang etwas merkwürdig. In den Versen vorher betont er noch, dass er die Gemeinde in Rom liebend gerne besucht hätte und dann setzt er fort „denn ich schäme mich des Evangeliums nicht...“. Das „denn“ ist dabei etwas irritierend.

Möglicherweise hat diese Wortwahl etwas mit den Gerüchten zu tun, die über Paulus im Umlauf waren, Paulus geht nicht näher darauf ein. Aber die Wortwahl wäre logisch, wenn eines der Gerüchte über Paulus gelautet hätte, dass er nicht nach Rom kommt, weil er sich schämt, seine Botschaft im Zentrum der damaligen Welt zu verkünden.

Warum schämt man sich

Doch warum sollte man sich überhaupt des Evangeliums schämen? Um das herauszubekommen müssen wir zuerst überlegen, was Scham eigentlich für eine Reaktion ist, wann und warum schämt man sich normalerweise? Nun, jeder von uns kennt vermutlich Situationen, in denen er sich geschämt hat. Man hat etwas ausgefressen und wurde erwischt. Man hat eine sportliche Veranstaltung verloren, die man eigentlich hätte haushoch gewinnen müssen. Man hat sich in jemand verliebt und irgendwelche Klassenkameraden haben das rausbekommen. Wenn man den gemeinsamen Nenner in diesen Begebenheiten sucht, dann findet man, dass Scham immer dann entsteht, wenn man von sich selbst Unzulänglichkeiten zeigt, wenn man Ansprüchen nicht gerecht wird, wenn man mit einem Makel behaftet zu sein scheint und damit dann vor jemanden oder etwas tritt, der als Richterinstanz, als Beurteiler der eigenen Person auftritt.

Wenn man etwas ausfrisst und erwischt wird, dann ist die Unzulänglichkeit entweder, dass man nicht selbst die Klugheit besessen hat, die negativen Folgen seines Tuns zu sehen oder dass man nicht die Fähigkeit besessen hat, unentdeckt zu bleiben.

Wenn man als haushoher Favorit verliert, dann zeigt man, dass man eben nicht der alles überragende Sportler ist und wenn man sich verliebt, dann ist man eben nicht der coole Typ, der alles unter Kontrolle hat. Man kann sich auch vor sich selber schämen, nämlich dann, wenn man Ansprüche an die eigene Person hat und diese dann nicht erfüllen kann. In diesem Fall tritt man sich selbst als Richter, als Beurteiler entgegen.

Warum kann man sich des Evangeliums schämen?

Wie kommt es nun, dass man sich des Evangeliums schämen kann? Welche Unzulänglichkeit haben wir, wenn wir uns zum Evangelium bekennen? Diesen Punkt erläutert Paulus näher im Brief an die Korinther, der aktuell ja auch Thema der täglichen Bibellese ist. In 1. Kor. 1, 20-24 schreibt Paulus:

20)Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weisen dieser Welt? (a) Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht?

(21)Denn weil die Welt, umgeben von der Weisheit Gottes, Gott durch ihre Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die daran glauben.

(22)Denn (a) die Juden fordern Zeichen, und (b) die Griechen fragen nach Weisheit,

(23)wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein (a) Ärgernis und den Griechen eine (b) Torheit;

(24)denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und (a) Gottes Weisheit.

Paulus sieht sich hier also von zwei unterschiedlichen Gruppen in seiner Verkündigung beurteilt. Von den Juden kommen theologische Anwürfe, sie können einfach nicht sehen, dass dieser hoheitliche Gott, dessen Namen man noch nicht enmal aussprechen darf, zu einem Mensch wird und sich selbst opfert, um Sündern zu helfen, die selbst keine moralische Leistung aufzeigen können. In ihren Augen ist Paulus mit dem Makel der Gotteslästerung behaftet. Die Griechen wiederum stehen fest in einer Welt die man beweisen, erklären, mit dem Verstand erfassen kann. Für sie ist die Sache mit Auferstehung und Sündenvergebung einfach nur Unsinn, Paulus redet schlicht irre.

Man sieht, Paulus hätte Grund genug, verschämt zu schweigen, die Vorwürfe sind dafür geeignet. Aber Paulus schämt sich nicht. Im Gegenteil, in 1. Kor. geht er mit den Worten der Vorwürfe in die Offensive und dreht den Spiess um. Die Weisheit der Welt bezeichnet er als Torheit vor Gott und die Torheit der Welt hat Gott zur Rettung auserwählt. Starke Worte eines starken Glaubenden.

Wie sieht es heute aus?

Doch wie sieht das bei uns aus? Hat sich die Situation geändert? In gewisser Weise schon, denn dass man sich des Vorwurfs der Gotteslästerung ausgesetzt sieht, kommt eigentlich nur noch innerhalb der Christengemeinschaft vor, nicht mehr in dem Kontakt mit Aussenstehenden. Das garantiert die Religionsfreiheit in unserem Land.

Aber auf der anderen Seite hat sich der Vorwurf, den die Griechen damals gemacht haben in unserer Zeit enorm verstärkt. Während die Griechen noch lediglich philosophische Argumente für ihre Weltsicht anführen konnten, hat sich heutzutage durch die Erfolge der Naturwissenschaften ein Weltbild allgemein breitgemacht, das die Griechen in jeder Weise bestätigt. Der Glaube an Gott scheint heutzutage eine grössere Torheit zu sein als je zuvor.

Und damit steht man in der Gefahr, dass man scheel angeschaut wird, wenn man sich gegenüber Kollegen oder Bekannten als Christ zu erkennen gibt. „Ah so, dass ist so ein Spinner“. Und wenn man so etwas hört oder auch nur befürchtet, dass man so etwas zu hören bekommt, dann steigt einem das Blut schon in den Kopf. Ganz unwillkürlich wird einem heiss, man schämt sich. Und mit so einem Gefühl umzugehen ist nicht einfach. Es ist halt nicht jedermanns Sache, sich wie Paulus hinzustellen und lauthals zu verkünden „ich schäme mich des Evangeliums nicht“.

Die Freiheit zum Selbstbewusstsein

Doch Gott sei Dank ist diese Stelle nicht als gesetzliche Aufforderung gedacht, dass es jedem Christen verboten sei, sich des Evangeliums zu schämen. Gott sei Dank ist Gott jemand der mich kennt, durch und durch, und mich mit meinen innersten Gefühlen annimmt. Und wenn ich mich schäme, obwohl ich weiss, dass es gar keinen Grund zum Schämen gibt, einfach weil ich davon beeinflusst werde, dass andere Leute über mich tuscheln, dann weiss das Gott und steht mir bei. Und wie er mir beisteht ist dann wieder ganz individuell unterschiedlich, dem Einen sagt er einfach „Lass gut sein, Du musst Deinen Mund nicht aufmachen, ich habe andere Aufgaben für Dich“, dem anderen sagt er vielleicht „Mach Dir nichts draus, rede weiter“.

Und wir brauchen uns tatsächlich des Evangeliums nicht zu schämen. Denn das hiesse, sich für etwas zu schämen, was wir erlebt, was wir erfahren, was uns verändert hat. Und sich dafür zu schämen ist wie, sich dafür zu schämen, dass man eine Erfahrung gemacht hat wie zum Beispiel im Urlaub Italien kennengelernt hat.

Vielleicht könnte jemand dann einwenden, dass der Makel nicht darin liegt, dass man etwas erfahren oder erlebt hat, sondern darum, dass man dieses Erlebnis mit einem so törichten Konzept wie Gott erklärt, wo doch die Naturwissenschaft beweist, dass es Gott gar nicht geben kann. In so einem Falle gebe ich allen hier die offizielle Erlaubnis, denjenigen einen Toren zu nennen, denn er würde mit so einem Argument lediglich zeigen, dass er keine Ahnung hat, was Naturwissenschaft ist und was Naturwissenschaft kann.

Eigentlich ist diese Scham, wie ich sie beschrieben habe, lediglich gefühlsmässige Einflussnahme durch andere und wenn ich merke, dass ich mich so vom Gerede anderer Leute beeinflussen lasse, dann sollte ich mich vor einen Spiegel stellen und sagen „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“.

Die Kraft Gottes

Aber Paulus hat noch einen anderen Grund, sich des Evangeliums nicht zu schämen. Er sagt, dass das Evangelium eine Kraft Gottes ist, die rettet, eine Kraft, die zum Leben führt. Warum sollte ich mich für etwas schämen, was rettet? Doch worin besteht diese Kraft, wie wirkt diese Kraft, die Paulus hier meint. Paulus begründet seine Aussage hier damit, dass das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart.

Vielleicht wird die Wirkung besser deutlich an einer interessanten geschichtlichen Anekdote, die mit diesem Vers verbunden ist. Der Vers 17 im Römerbrief ist nämlich das „Damaskus-Erlebnis“ von Martin Luther. Es ist der Vers, der aus dem katholischen Mönch Martin Luther den kraftvollen Reformator Martin Luther gemacht hat. Luther schreibt in einem Vorwort zu einer Gesamtausgabe zu seinen Werken kurz vor seinem Tod:

Beginn Zitat Luther:

Inzwischen war ich in diesem Jahr [1519] zum Psalter zurückgekehrt, um ihn von neuem auszulegen, im Vertrauen darauf, daß ich geübter sei, nachdem ich St. Pauli Epistel an die Römer und Galater und die an die Hebräer in Vorlesungen behandelt hatte.

Ich war von einer wundersamen Leidenschaft gepackt worden, Paulus in seinem Römerbrief kennenzulernen, aber bis dahin hatte mir nicht die Kälte meines Herzens, sondern ein einziges Wort im Wege gestanden, das im ersten Kapitel steht: »Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm [= Evangelium] offenbart« [Röm 1,17]. Ich hatte nämlich dieses Wort >Gerechtigkeit Gottes< zu hassen gelernt, das ich nach dem allgemeinen Wortgebrauch aller Doktoren philosophisch als die sogenannte formale oder aktive Gerechtigkeit zu verstehen gelernt hatte, mit der Gott gerecht ist, nach der er Sünder und Ungerechte straft. –

Ich aber, der ich trotz meines untadeligen Lebens als Mönch, mich vor Gott als Sünder mit durch und durch unruhigem Gewissen fühlte und auch nicht darauf vertrauen konnte, ich sei durch meine Genugtuung mit Gott versöhnt: ich liebte nicht, ja, ich haßte diesen gerechten Gott, der Sünder straft; wenn nicht mit ausgesprochener Blasphemie, so doch gewiß mit einem ungeheuren Murren war ich empört gegen Gott und sagte: »

Soll es noch nicht genug sein, daß die elenden Sünder, die ewig durch die Erbsünde Verlorenen, durch den Dekalog mit allerhand Unheil bedrückt sind? Muß denn Gott durch das Evangelium den Schmerzen noch Schmerzen hinzufügen und uns durch das Evangelium zusätzlich seine Gerechtigkeit und seinen Zorn androhen?«

So raste ich in meinem wütenden, durch und durch verwirrten Gewissen und klopfte unverschämt [Lk 11,5-10] bei Paulus an dieser Stelle an, mit heißestem Durst zu wissen, was St. Paulus damit sagen will.

Endlich achtete ich in Tag und Nacht währendem Nachsinnen durch Gottes Erbarmen auf die Verbindung der Worte, nämlich -. »Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart, wie geschrieben steht [Hab 1,4], >Der Gerechte lebt aus dem Glauben<. «

Da habe ich angefangen, die Gerechtigkeit Gottes so zu begreifen, daß der Gerechte durch sie als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus Glauben; ich begriff, daß dies der Sinn ist: offenbart wird durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes, nämlich die passive, durch die uns Gott, der Barmherzige, durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: »Der Gerechte lebt aus dem Glauben«.

Ende Zitat Luther

Ich sehe viele Parallelen zwischen den Personen von Paulus und Luther. Beide waren sie Eiferer vor Gott, beide waren sie sich ihrer Schuld vor Gott zu stark bewusst, beide werden durch die Botschaft „ihr seid gerettet, wenn ihr glaubt“, also durch das Evangelium in so überwältigender Weise von ihrer Schuld befreit, dass sie die Energie und die Kraft für behnbrechende Leistungen erhielten. Und das ist auch der Grund, warum Paulus hier von dem Evagelium als eine „Kraft Gottes“ redet und Luther hat ihm da mit Sicherheit aus vollem Herzen zugestimmt.

Die Wirkung des Evangeliums

Das Evangelium ist also keine Kraft wie sie die Physik zum Beispiel versteht. In der Physik wirkt eine Kraft unabhängig vom Denken und Wollen der Menschen, das Evangelium baut aber gerade darauf auf. Die Kraft des Evangeliums entwickelt sich dann, wenn Menschen sich in Glauben Gott zuwenden, wobei ich hier mit Glauben auch den zweifelnden Glauben meine. Denn es wäre wieder ein Ausrutscher in Richtung Werkgerechtigkeit, wenn ich vor der Wirkung des Evangeliums die Leistung eines Glaubens einfordern würde. Aber ganz ohne Zuwendung zu Gott geht es auch nicht. Es ist vielleicht eher ähnlich wie das, was ich zu Anfang aus meiner Geschichte erzählt habe. Die Kraft Gottes fängt an, wenn wir anfangen uns für ihn zu interessieren, anfangen ihn ernst zu nehmen, anfangen auf ihn zu hören.

Und noch etwas unterscheidet die Kraft Gottes von einer Kraft wie sie die Physik versteht. Das Evangelium wirkt nicht universell, sondern individuell. Wie es wirkt ist von Mensch zu Mensch verschieden. Für Paulus und für Luther stand die Befreiung von Schuld im Vordergrund. Paulus kam aus der jüdischen Tradition, Luther aus der katholischen. Beide Traditionen konzentrierten sich auf den Menschen und seine Sünde und so war bei beiden das Gefühl des „unruhigen Gewissens“ im Vordergrund. Manche hier und heute können diesen beiden grossen Männern dabei wahrscheinlich mit eigenen Erfahrungen und Empfindungen folgen, aber bei mir zum Beispiel war es anders. Ich hatte mich niemals grossartig schuldig gefühlt und so war die Befreiung von Schuld für mich eher wie ein Beiwerk, das man so mitnimmt, das aber nicht wirklich begeistert.

Für mich war z.B. der Aspekt der Liebe viel viel zentraler. Gott liebt mich wie ich bin, das war für mich wichtig und das hat mich von Grund auf umgekrempelt und hat die Kraft des Evangeliums bei mir erst zur richtigen Entfaltung gebracht.

Und so kann vermutlich jeder von uns einen anderen Aspekt beitragen. Jeder Mensch ist anders und bei jedem wirkt das Evangelium als Kraft unterschiedlich. Welches jetzt für den einzelnen der wichtigste, der „auslösende“ Aspekt ist, das ist nicht wichtig, wichtig ist, dass das Evangelium seine Kraft entfalten konnte.

Das Evangelium wirkt eventuell nicht

Denn es bleibt nun einmal Tatsache, dass es viele Menschen gibt, die vom Evangelium unbeeindruckt bleiben, denen das Evangelium nach wie vor eine Torheit ist, schwache Worte, die nichts nutzen. Bei diesen Menschen hat das Evangelium noch keinen Zugang gefunden, diese Menschen haben noch keinen Aspekt gefunden, der ihnen das Evangelium wichtig und damit wirkungsvoll machen könnte. Diesen Menschen ist die Kraft des Evangeliums nicht erschlossen, es kann nicht wirken.

Welche Konsequenz können wir als Gemeinde, als Menschen, die das Evangelium verbreiten wollen und sollen, daraus ziehen? Diese Beobachtungen, die ich gerade geschildert habe, könnten uns dazu verführen, den Menschen, die das Evangelium nicht begreifen, die Defizite aufzudrängen, damit das Evangelium seine Kraft entfalten und diese Defizite wieder beseitigen kann. Also, wenn sich die Menschen nicht schuldig fühlen, könnte man versuchen, Ihnen die Schuldgefühle einzureden, damit das Evangelium ihnen diese wieder nehmen kann. Oder wenn den Menschen die Liebe Gottes egal ist, könnte man versuchen, ihnen die Lieblosigkeit der Welt einzureden, damit sie über das Evangelium das Licht der Liebe wiederentdecken können.

Nicht mit der Kraft von Menschen

All das sind Methoden von Menschen, meistens wohlmeinenden Menschen, die die Kraft des Evangeliums eindrucksvoll erfahren haben. Sie wollen diese Erfahrung weitergeben und verzweifeln daran, dass andere diese Erfahrung nicht teilen können. Aber wenn wir so menschlich an die Verbreitung des Evangeliums herangehen, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn es nicht funktioniert. Gott will nicht, dass wir die Menschen in das Evangelium hineintricksen. Wir sollen es sagen, verbreiten und das wirkt in der Regel nur individuell.

Natürlich ist es wahr, dass es die Botschaft des Evangeliums ist, dass unsere Schuld vergeben ist, aber wenn Menschen die Schuld nicht empfinden, dann müssen wir das akzeptieren. Natürlich ist es wahr, dass die Botschaft des Evangeliums ist, dass Gott uns liebt, aber wenn Menschen diese Liebe nicht nachvollziehen können, dann sollten wir höchstens danach fragen, wieso das so ist und nicht versuchen, ihnen diese Liebe in liebloser Weise aufzudrängen. Mit anderen Worten, wir müssen dazu übergehen, die Menschen, die Gott nicht akzeptieren, anzunehmen, zu lieben, anstatt zu versuchen, sie nach unserem Willen umzuformen.

Evangelium heisst, Niederlagen aushalten

Genau zu so einer Haltung kann uns das Evangelium verhelfen. Denn es geht auf der anderen Seite auch darum, nicht in eine „es ist alles egal“ Haltung zu verfallen. Sowohl diese Egal-Haltung als auch die „ich zwinge Dich“-Haltung sind letztlich nichts anders als Versuche, mich selber zu schützen, zu schützen vor Enttäuschung, vor Niederlagen, vor dem Eindruck, das Evangelium sei ja gar nicht kraftvoll.

Aber genau diese Enttäuschungen, diese Niederlagen hat Jesus uns nicht nur angekündigt, er hat uns aufgefordert, genau dieses zu tragen als unser Kreuz, als unsere Aufgabe. Das bedeutet, dass wir aus dem Glauben heraus eine aktive Gelassenheit entwickeln, die beides enthält, sowohl das Feuer, das uns dazu treibt, das Evangelium weiterzugeben als auch die Offenheit, die uns dazu bringt, die Menschen zu nehmen wie sie kommen.

Und wenn ihr Euch jetzt fragt, wie soll ich das denn bloss schaffen, dann habe ich eine ganz einfache Antwort für Euch: Keine Ahnung und ich schaffe das auch nicht. Aber genau dafür brauchen wir Gemeinde. In der Gemeinschaft können wir gegenseitig unsere Defizite ausgleichen, in der Gemeinschaft können wir uns gegenseitig ermutigen, korrigieren und neu auf Jesus ausrichten. Und wenn wir das in der Gemeinschaft schaffen, dann werden wir entdecken, dass wir es gar nicht nötig haben, selber Kraft zu entwickeln, sondern dass es lediglich darum geht, Räume zu schaffen, so dass das Evangelium seine individuelle Kraft entwickeln kann. Und wenn das passiert, dann werden wir Wunder erleben.

Amen